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Was ist der Wert von Zeit?

martinazeier

Aktualisiert: 24. Feb.

In unserem Kurs "Psychology@Work" haben wir die Studierenden gefragt, welche Fragen sie an das Leben haben – eine spannende Aufgabe, die viele interessante Einblicke in ihre Gedankenwelt bot. Dabei tauchte u.a. auch die Frage auf: was ist der Wert von Zeit?


Solche Fragen fordern uns auf, neue Perspektiven zu entwickeln und tiefere Einsichten zu gewinnen. Wir nehmen uns dann bewusst die Zeit, darüber nachzudenken und Antworten oder zumindest wertvolle Denkanstöße zu finden. Besonders, weil uns der Umgang mit der Zeit in unserere Gesellschaft oft genauso irritiert oder zum Nachdenken anregt – und genau hier beginnt die Reise zu neuen Erkenntnissen. Denn Zeit ist nicht nur ein abstraktes Konzept, sondern auch ein praktisches Instrument, das unserem Alltag Struktur verleiht. Sie bringt Ordnung in unsere Aufgaben, hilft uns, Termine einzuhalten, pünktlich zu sein und erleichtert das Miteinander und die Zusammenarbeit.


Bereits in unserer Sprache zeigt sich, wie wir unseren Umgang mit der Zeit gestalten – und oft auch, wie gehetzt wir durch sie sind:


  • „Hättest du noch schnell Zeit für mich?"

  • “„Ich mache noch schnell...“

  • „Darf ich dich schnell etwas fragen?“

  • „Ich habe keine Zeit zu verlieren.“


In der heutigen Arbeitswelt scheint Hektik allgegenwärtig zu sein. Der ständige Druck, schnell zu liefern und Ergebnisse sofort zu erzielen, prägen unseren Arbeitsalltag. Wir hetzen von einem Meeting zum nächsten, unsere E-Mails stapeln sich, und die To-Do-Listen werden nie kürzer. Jeder Tag scheint ein Wettlauf gegen die Zeit zu sein, in dem wir versuchen, Aufgaben schneller abzuarbeiten und immer mehr in immer kürzerer Zeit zu erledigen.


Doch dieser ständige Stress und die Gehetztheit hinterlassen ihre Spuren. Wir sind oft so damit beschäftigt, alles „schnell“ zu erledigen, dass wir die Qualität unserer Arbeit nicht mehr im Blick haben oder uns keine Zeit mehr für kreative Prozesse nehmen können. Pausen und Momente der Ruhe gönnen wir uns kaum noch.


Studien zeigen, dass wir in einer Stunde durchschnittlich 15 Mal unterbrochen werden – das bedeutet alle 4 Minuten. Andere Untersuchungen belegen, dass es im Schnitt 9 Minuten dauert, bis wir nach einer Unterbrechung wieder in den Arbeitsfluss zurückfinden. Das lässt wenig Raum für konzentriertes Denken, Flow-Momente, für tieferes Sinnerleben und neue Ideen.


In dieser Atmosphäre aus Druck und Eile verlieren wir häufig den Kontakt zu dem, was wirklich zählt – zu uns selbst. Dabei haben wir vergessen, dass wir als Menschen tief mit der Natur verbunden sind. Wir sind ein Teil der natürlichen Welt und eingebunden in ihre Zyklen. Wir erleben die Jahreszeiten, verstehen den weiblichen Zyklus und erkennen die zyklischen Veränderungen in den Ökosystemen. Als Menschen brauchen wir sowohl Phasen der Aktivität als auch der Erholung, um im Gleichgewicht zu bleiben. Ein zyklisches Verständnis von Zeit, das den Wechsel zwischen Aktivität und Regeneration berücksichtigt, würde viel mehr mit unserer natürlichen Existenz im Einklang stehen.


Doch um die verschiedenen Facetten von Zeit noch besser zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf zwei griechische Konzepte, die uns unterschiedliche Perspektiven eröffnen: Kronos und Kairos. Diese Begriffe sind tief in der westlichen Philosophie und Kultur verankert und zeigen uns, wie vielfältig unser Umgang mit Zeit sein könnte.


  • Kronos steht für die lineare, messbare Zeit – die Zeit, die wir in Minuten, Stunden und Tagen messen. Es ist die Zeit des Kalenders, der Uhr und der Arbeit. Heute orientieren wir uns fast ausschliesslich an Kronos: Wir haben feste Termine, Fristen und Verpflichtungen, die uns vorantreiben und unser tägliches Handeln strukturieren. Diese Art der Zeit ist klar, vorhersehbar und zwingt uns zu einem effizienten und zielgerichteten Handeln. Doch genau diese Art von Zeit kann uns auch in einen Zustand der Gehetztheit und des Stresses versetzen, da wir ständig gegen die Uhr arbeiten und versuchen, mehr in weniger Zeit zu erledigen. In unserer Zeit gilt es auch noch als besonders verdienstvoll überarbeitet und ständig gehetzt zu sein.


  • Kairos hingegen repräsentiert eine tiefere, qualitative Auffassung von Zeit – es ist der „richtige Moment“, der Augenblick, in dem die Zeit für eine besondere Handlung oder Entscheidung reif ist. Kairos ist nicht messbar, sondern nur erlebbar. Es ist der Moment der Inspiration, die Gelegenheit, die sich plötzlich bietet, der Augenblick, in dem alles zusammenkommt und sich eine einzigartige Chance eröffnet. In unserer hektischen Welt wird Kairos oft übersehen, weil wir zu sehr auf den konstanten Fluss von Kronos fixiert sind. Doch Kairos erinnert uns daran, dass es nicht nur darum geht, wie viel wir in einer bestimmten Zeit erreichen, sondern auch darum, in bestimmten Momenten innezuhalten, zu spüren und die Gelegenheit zu nutzen, wenn sie kommt.


Durch die Industrialisierung hat sich der Fokus in unserer Gesellschaft immer mehr auf den Kronos-Aspekt der Zeit verlagert. Das bedeutet, dass Gehetztsein und der ständige Drang nach Effizienz unseren Arbeitsalltag dominieren, während Zeit für Reflexion immer seltener wird. Dieser permanente Druck ist nicht nur ein Merkmal unserer modernen Arbeitswelt, sondern auch ein grundlegendes Hindernis für die Erreichung wirklich nachhaltiger und kreativer Ergebnisse. Wir sind gestresste Individuen, arbeiten in hektischen Organisationen und leben in einer von Eile und Druck geprägten Gesellschaft. Für Neues, für das Entdecken unkonventioneller Wege oder einfach für das Hinterfragen des Status quo bleibt kaum noch Raum.


Was können wir also tun, um den Kairos-Aspekt wieder stärker in unser Denken, Fühlen und Leben zu integrieren? Hans Rusinek nennt in seinem Buch "Work-Survive-Balance" (2024) drei zentrale Aspekte:


  1. Verstehen, dass hektische Aktivität nicht dasselbe ist wie Schnelligkeit: Hektische Aktivität geht oft mit einem Zustand der Angst und dem Gefühl des „Nicht-genug-Seins“ einher. Sie führt uns in einen Strudel von Überforderung. Schnelligkeit hingegen, wenn sie mit Konzentration und Achtsamkeit einhergeht, kann Flow-Momente ermöglichen – jene Zustände, in denen wir vollständig in einer Aufgabe aufgehen. Die Frage lautet also: Was brauchst du, um solche Flow-Momente zu erleben? Wann hast du sie bereits erlebt? Wie waren die Umstände? wann fühlst du dich inspiriert? wann entstehen bei dir neue Ideen? Und vor allem: Wie kannst du dir mehr solcher Kairos-Momente in dein Leben holen? Vielleicht indem du dir gezielt Zeit für konzentriertes Arbeiten blockierst?


  2. Uns selbst besser beobachten und unsere natürlichen Zyklen kennenlernen:

    Jede:r von uns folgt einem einzigartigen Rhythmus, der von inneren und äußeren Faktoren beeinflusst wird. Dieser Zyklus kann unser Energielevel, unsere Kreativität, unsere Stimmung und sogar unsere Leistungsfähigkeit im Laufe des Tages oder über die Monate hinweg beeinflussen. Es geht darum, auf die Signale unseres Körpers zu hören: Wann fühlen wir uns energetisch und kreativ? Wann sind wir erschöpft und benötigen eine Erholungspause? Diese Beobachtungen helfen uns, unsere Aufgaben in Einklang mit unserem natürlichen Rhythmus zu bringen und so das Wohlbefinden zu steigern.


  3. Die zyklische Zeit um uns herum verstehen, die mit der linearen Zeit unserer Arbeit auf gefährliche Weise kollidiert: In der heutigen Arbeitswelt wird oft nur die lineare Zeit beachtet, die uns zum ständigen „Durchziehen“ und „Erledigen“ drängt. Doch die zyklische Zeit – die natürlichen Rhythmen von Aktivität und Erholung – kollidiert häufig mit dieser Vorstellung und kann zu Stress und Überlastung führen.


  4. Zeitvielfalt- Ein zyklisches Zeitverständnis etablieren: Statt nur Schnelligkeit zu kultivieren, sollten wir uns bewusst verschiedene Zeitformen aneignen und deren Zusammenspiel wertschätzen. Ein zyklisches Zeitverständnis, das Arbeit, Erholung und kreative Pausen integriert, kann uns helfen, gesünder zu leben und zu arbeiten.


Indem wir sowohl den Kronos-Aspekt der Zeit – die strukturierte, lineare Zeit – als auch den Kairos-Aspekt – den richtigen Moment – miteinander verbinden, können wir unsere Zeit noch bewusster nutzen. Die Fokussierung auf Kairos hilft uns, im Hier und Jetzt ganz präsent zu sein. Sie fördert unsere Achtsamkeit im Moment und ermöglicht es uns, besser auf die Gegebenheiten des Augenblicks zu reagieren. Gleichzeitig unterstützt uns Kairos dabei, den „günstigen Moment“ zu erkennen und zu nutzen, um positive Veränderungen zu bewirken. Kronos hingegen gibt uns die Möglichkeit, über die Vergangenheit nachzudenken, Muster zu erkennen und aus unseren Erfahrungen zu lernen. Es ist also nicht ein "entweder oder" sondern vielmehr ein "sowohl als auch".



„Die Zeit ist das, was wir am meisten wollen,

aber das, was wir am schlechtesten nutzen.“

(Carl Sandburg)



Was ist also der Wert der Zeit?


  • Zeit hat einen persönlichen Wert: wir wissen und erkennen, oftmals je älter wir werden, dass unsere Zeit begrenzt ist. Es lohnt sich deshalb die persönliche Zeit mit den eigenen Prioritäten und seinem Wohlbefinden zu verknüpfen. Unser Umgang mit unserer persönlichen Zeit beeinflusst unsere Lebensqualität, unsere Beziehungen und unsere Erfüllung

  • Zeit hat aber - wie bereits erwähnt - auch einen ökonomischen Wert: sie wird monetarisiert, wird durch Lohn oder den Wert, den eine Aufgabe generiert bestimmt. Zeit ist eine Ressource, die oft mit Geld in Verbindung gebracht wird ("Zeit ist Geld"). Dies beinhaltet jedoch nur die Kronos-Perspektive und wird einem ganzheitlichen Zeitverständnis, welches auch für die Wirtschaft immer wichtiger wird, nicht gerecht.

  • Zeit ist aber auch ein abstraktes Konzept und relativ, beeinflusst unsere Wahrnehmung und unser Verständnis von Leben und Tod. Sie kann ein Massstab für Veränderung, Wachstum und Vergänglichkeit sein. Unsere Einstellung zum Leben beeinflusst wie viel Zeit wir für was nehmen und zeigt welche Dinge uns wirklich wichtig sind.

  • Zeit hat zudem einen sozialen und emotionalen Wert: Zeit, welche wir mit anderen Menschen verbringen, prägt unsere Beziehungen und das, was uns mit anderen verbindet. Gemeinsame Erlebnisse, Gespräche und Momente der Verbundenheit machen Zeit für viele wertvoll.


Die Frage lautet somit nicht, welcher Wert Zeit hat, sondern vielmehr:


Welchen Wert gibst du deiner Zeit?





Quellen:

Work Survive Balance, Hans Rusinek, 2024

Kairos und Chronos - Zeitempfinden und Resilienz, Resilienz Akademie, 2023


 
 
 

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